Eine nahezu philosophische Frage, die Lidl im neuen Imagespot der Agentur „Freunde des Hauses“ (derzeit nur in Deutschland zu sehen) klären möchte. Und diese Frage beschäftigt derzeit auch viele Werber, Journalisten, Blogger und auch Konsumenten. Was bedeutet die Eigenschaft „gut“ bzw. was hat der Inhalt der aktuellen Werbekampagne mit der Marke Lidl gemeinsam?
Der Spot wirkt makellos: Wunderschöne Bilder einer heilen und auch entschleunigten Welt, in der die Frage, was gut ist, jedem selbst überlassen wird. Dass etwas gut ist, ist demnach höchst subjektiv und damit auch nicht angreifbar. Die musikalische Untermalung harmoniert mit den gezeigten Bildern, die Schnitttechnik hat dabei präzise gearbeitet, die Botschaft kommt beim Betrachter an und wird verstanden: Man darf und soll man selbst sein. Die Momente, die wir erleben, haben wir selbst in der Hand und es steht nur uns zu, sie zu bewerten.
Wir entscheiden, was uns gut tut. Auffällig ist, dass „gut“ in dem Werbespot nichts mit Produkten, Marken oder Kaufentscheidungen zu tun hat, sondern es bezieht sich rein auf Situationen des täglichen und zwischenmenschlichen Lebens. Der Spot zeigt uns Situationen des seelischen Wohlbefindens, herbeigeführt durch Loslassen und die Dinge sein lassen. Der Gefühlszustand wird im Spot nicht durch aktive (Kauf-)Handlungen verursacht. Analytisch betrachtet, verlassen die Darstellungen dabei den Rahmen unserer gespeicherten Schemata und Muster von „Einkauf“ (bei einem Diskonter). Einkaufen bedeutet, rational und geplant zu handeln, mit einem Ziel handeln und das in einer schnelllebigen Welt. Entgegen dem, zeigt uns Lidl Entschleunigung auf mehreren Ebenen: Die Spotlänge und die Dauer jeder Einstellung zeigen, dass Zeit unwichtig ist. Die Kamera ist meist unbewegt auf Situationen und Menschen gerichtet, die begleitende Klaviermusik ist langsam, lieblich, verträumt und sehr beruhigend. Die Frauenstimme aus dem Off spricht ebenso langsam und sehr bedächtig. Die Machart und der Inhalt verweisen eher auf Beauty, Wellness u.Ä. Bilder vom Meer vermitteln Urlaubsfeeling. Das erzeugt einen wahrnehmbaren Bruch zwischen der erlebten Realität des Einkaufs und der erzählten Geschichte, die beim Betrachter unbewusst Unstimmigkeit/Gegensätzlichkeit auslöst. In der einzigen „produktnahen“ Situation zwischen Mutter, die ihr Baby füttern mag, sehen wir Ablehnung des Produktangebotes – das Baby dreht sich angewidert weg.
Am Ende des Werbespots wird das bekannte blau-gelb-rote Logo mit stolperndem „i“ und der Webadresse „lidl-lohnt-sich.de“ eingeblendet – und das sorgt für Erstaunen.
Ein Logo hat eine kommunikative Funktion, es spiegelt die Wertewelt und Identität des Absenders. Beim Betrachten rufen wir unseren ganzen unbewussten Erfahrungsspeicher ab, alle Vorstellungsbilder, die mit der Marke verbunden sind. Im Fall von Lidl passiert genau das: Der Spot ruft Reaktanz hervor, weil er das Gegenteil unserer mit Lidl verbundenen Erfahrungen und Vorstellungen vermittelt. Lidl ist in unseren Köpfen als (skandalbehafteter) Diskonter mit schmalem Warensortiment und billigem Preis gespeichert. „Lidl lohnt sich“ ist ein Versprechen, das vor allem auf die alten, in unserem Unterbewusstsein gespeicherten Muster des preisgünstigen Einkaufs einzahlt. Ein Imagewechsel ist möglich, doch
problematisch, solange es zwei Auftritte im Web gibt, die Billigbotschaften und Werte der neuen Kampagne vermitteln. Hinzu kommt, dass Logo und Claim nicht verändert wurden, was höchst hinderlich für eine glaubhafte Umpositionierung ist.
Fazit
Ein perfekt gemachter Spot mit schönen Bildern und einer wunderbar meditativen Musik, dem es gelingt, ein extremes Spannungsverhältnis zwischen Soll-Image und Ist-Erfahrungen aufzumachen und damit Reaktanz hervorzurufen. Wir wissen nun, dass der Spot von Lidl ist – der Impact ist enorm. Verwechslungsgefahr (Stichwort VignetteRoulette – ich empfehle Lidl Video mit Ergo-Tonspur) besteht schon aufgrund der explodierenden Diskussion im Netz nicht mehr. Ein Anker ist gesetzt und damit auch große Erwartungen an die Versprechenserfüllung. Nun bleibt es, den Beweis anzutreten und Lidl generell „neue Kleider“ zu verpassen, nämlich auch bei den wichtigsten Signés: dem Logo und dem Claim. Nicht zu vergessen, natürlich auch alle weiteren Touchpoints auf die neuen Markencodes hin anzupassen: Website, Social Media, Geschäfte und Produktsortiment.
Artikel ist auch erschienen im A3 Marketing . Media . Adscience April 2015