Bedürfnisse entstehen, weil wir aus bestimmten Ritualen Erwartungshaltungen entwickeln. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit begegnen wir Brauchtümern und Ritualen wesentlich häufiger als sonst. Welche Bedeutung hat der Adventskalender aus heutiger Sicht und ist er nur für Kinder gemacht?
Die ersten Erscheinungsformen des Adventskalenders scheint dieser weihnachtliche Vorbote im 19. Jahrhundert in christlich-protestantisch geprägten Regionen zu haben. Grundsätzlich kann man zusammenfassen, dass bei uns die kalendarischen Adventkalender am häufigsten verbreitet sind: Sie zählen die Tage zwischen dem 1. Dezember und dem Heiligen Abend.
24 Tage im Jahr sollen etwas „Besonderes“ sein: Das ist nur die halbe Wahrheit!
Es ist spannend, dass der Adventskalender heutzutage nicht (mehr) als „kindisch“ abgetan wird: Neben den üblichen Schoko-Versionen gibt es ihn mit so ziemlich jedem Inhalt: Modellautos, kleine Bierflaschen, Parfümflacons etc. – Dabei geht es nicht nur um das Bedürfnis, sich kollektiv ein „Stück Kindheit“ zu bewahren, sondern um einen komplexen neuropsychologischen Vorgang: Es ist vollkommen egal, was sich im Adventskalender befindet, solange der Inhalt individuell glücklich macht. Unser Gehirn hat in Kindertagen gelernt, dass das tägliche Öffnen des Adventkalenders mit positiven Emotionen (Vorfreude, Erwartung) einhergeht. Diese Erinnerung ist im Gehirn abgespeichert und aktiviert das körperinterne Belohungssystem: Wir fühlen uns glücklich, weil unser Gehirn automatisch „Dopamin als Neurotransmitter der Belohnungserwartung“ freisetzt. Wichtig ist dabei, dass wir die Erinnerung an den Adventskalender mit guten, schönen Gefühlen verbinden: Dann genügt es schon, ihn nur auf Abbildungen oder im Shop-Regal zu sehen, um sich glücklich zu fühlen. Es geht also einerseits um die Erinnerung, die jedoch anderseits ohne die Koordination mit der Ausschüttung des Glückshormons Dopamin nicht so unbewusst stattfinden würde.
Für uns bedeutet das: Adventkalender sind ein multisensuales Markenerlebnis – schon die „Verpackung“ löst bei den meisten Menschen Glücksgefühle aus. Wir fühlen, riechen, schmecken, machen typische Bewegungen mit dem Feingriff – unser Tastsinn und die Entdeckung arbeiten auf Hochtouren. Die positive Wahrnehmung und Erlebnisverknüpfung mit Marken steigt durch dieses Marketinginstrument überdurchschnittlich.
Die Motive haben sich geändert: Vom Zeitmesser zum Event
Die Mythen um die Entstehung des Adventskalenders, der zunächst „Weihnachtskalender” hieß, variieren enorm. Sicher ist nur, dass er in der Übergangszeit des 19./20. Jahrhunderts entstand. Zwei Motive prägten den Adventkalender zur Zeit seiner Entstehung: Einerseits diente er als Zeitmesser, um die abstrakte Größe „Zeit” für Kinder besser begreifbar zu machen. Andererseits sollte er das Wissen um die Wichtigkeit der Geburt von Jesus untermauern, indem sich Familien zur Rezitation von Bibelstellen & kirchlichen Liedern allabendlich versammelten. Hier, im größtenteils katholisch geprägten Österreich, war die „Himmelsleiter” eine Visualisierung der Vorstellung, dass das Christkind jeden Tag im Advent eine Sprosse weiter auf die Erde hinabsteigt, um zu verdeutlichen, dass Gott am Heiligen Abend durch seinen Sohn auf die Erde kommt. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts kamen industriell gefertigte Adventskalender auf den Markt: zunächst mit Bildern (ca. 1920), später mit Schokolade (ca. 1950).
Heute haben sich die Motive grundlegend geändert: Der Adventskalender ist zum persönlichen Event geworden. Es geht um den Kalender, um das Wow-Erlebnis, das 24 Tage im Jahr zu spüren ist. In Großstädten werden z. B. ganze Gebäudefassaden zu Adventkalendern umfunktioniert.
Codierung eines Rituals: Das Öffnen das Adventskalenders
Auch wenn sich die Motive im Laufe der Zeit geändert haben, so ist doch das Ritual das selbe geblieben: Ich gehe zum Adventskalender und „öffne” jeden Tag ein Türchen und fühle mich gut. Doch wie wird der dabei (oben erwähnte) Dopamin-Ausstoß im Gehirn programmiert? Es geht hierbei nicht nur um die Erinnerung an das positive Gefühl („Ich schenke mir etwas.” bzw. „Ich werde beschenkt.”), sondern um das sensorische Erlebnis: Durch das „Öffnen” wird ein Code in unserm Gehirn programmiert. Das tägliche „Annehmen” des kleinen Geschenks wird im Unterbewusstsein verankert. Das klingt komplex, aber wer kommt nicht jeden Tag in Versuchung, einfach alle Türchen des Adventskalenders zu öffnen? Dieses Bedürfnis ist die Folge des gelernten Rituals: Wenn mir das Öffnen jeden Tag einen kleinen Glücks-Kick gibt, suggeriert uns das Unterbewusstsein das ultimative Weihnachtserlebnis durch das einmalige Öffnen. Das funktioniert eben nicht, weil der sensorische Teil des Rituals genauso wichtig ist wie der Dopamin-Ausstoß. Da hilft es dann auch nichts, wenn man (wie „Harrods”) die einzelnen Geschenke auf einen Gesamtwert von über 1 Million Dollar aufbläst. Ist ein Ritual erst einmal codiert, lässt sich unser Unterbewusstsein nur schwer austricksen!