Nikolo vs. Krampus oder die Emanation unserer Persönlichkeit

Nikolostiefel | © livingathome.de

Am 5./6. Dezember treffen zwei Gegenspieler aufeinander: Krampus vs. Nikolo. Reine Nostalgie kann nicht der Grund sein, warum wir an dieser Tradition festhalten, zumal sie sich – im Gegensatz zum bereits vorgestellten Adventskalender – über die Jahrhunderte kaum verändert hat. Welche grundlegenden Motive stehen also hinter diesem Brauch?

Der Mythos um den Stiefel: Symbol für Großzügigkeit und Disziplin

Warum werden bis heute Schuhe bzw. Stiefel am Abend des 5. Dezember mit allerlei Süßem befüllt? Auch wenn es unterschiedliche Entstehungsgeschichten des Nikolos gibt (ihren Ursprung haben sie übrigens alle in der Türkei zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert), so umwebt die historische Figur ein Mythos: Damit ein verarmter Vater seine drei Töchter standesgemäß verheiraten konnte und nicht versklaven lassen musste, warf der Nikolo jeder Tochter einen Goldklumpen vor das Fenster. Dabei wurde der Nikolo vom Vater entdeckt. Dieser versprach dem bescheidenen Nikolo, niemanden etwas von dessen Wohltätigkeit zu erzählen. Dennoch machte die Geschichte die Runde und Kindern wurden in Behältnissen kleine Geschenke überreicht. Da diese Behältnisse aber rar waren, wurden die Schuhe benutzt. Diese wurden in der Nacht zum 6. Dezember vor die Haustür gestellt. Dass man das vorangehende Putzen der Schuhe als Bedingung für die Geschenke etablierte, hat nichts mit dem ursprünglichen Mythos zu tun, sondern vor allem mit der Disziplinierung der Kinder.

Der Kampf zwischen Gut und Böse: Projektion der eigenen Widersprüche

Postkarte "Gruß vom Krampus"

Postkarte „Gruß vom Krampus“

Der Nikolo braucht einen Gegenspieler. Gefürchteter Begleiter des Heiligen Nikolaus ist der sogenannte Krampus beziehungsweise seine Perchten. Hierbei handelt es sich um ursprünglich weibliche Sagengestalten, die während der Adventzeit, meist um den 5. Dezember in verschiedenen Regionen in Erscheinung treten. Perchten sind die Gehilfen des Krampus‘ und kommen, so der Volksglaube, direkt aus der Hölle.

Im Gegensatz zum Nikolo ist der Krampus erst im 16./17. Jahrhundert entstanden, um die Kinder als Abbild des Teufels zu Artigkeit, Frömmigkeit und Glauben zu erziehen. Die Symbole sind Rute und Jutesack und etablieren den Krampus und seine Perchten somit als bösartige Erzieherfiguren, die den Gegenpart zum großzügigen und gutmütigen Nikolo darstellen.


Perchten | © relevant.at

Perchten | © relevant.at

Durch die Perchten und den Krampus sollten in den „alten“ Brauchtümern die bösen Geister des Winters ausgetrieben werden. Worum es bis heute geht, ist die Projektionsfläche für das Gute (Nikolo) und das Böse (Krampus): Wir wissen um unsere Eigenschaften, die alle bis zu einem gewissen Grad vorteilhaft oder negativ sein können – das verbindet uns mit den Figuren. Dennoch wollen wir die Symbolik um die Kategorien „Gut“ und „Böse“ destillieren, in einer Figur vereinen, damit wir uns von allen klischeehaften Eigenschaften (Wohltätigkeit ist gut, Gewalt ist böse) distanzieren können. Das Motiv heißt hier Verdrängung durch ein mythisch-religiöses Gedankenkonstrukt: Es ist bequem, nicht hinterfragen zu müssen, wo sich „Gut und Böse“ heute zeigen. Da greifen wir doch einfach auf die Kategorien „Himmel vs. Hölle“ zurück. In der Geschichte der Philosophie wird eben dieses Phänomen mit dem Begriff der Emanation („Ausfließen”) bezeichnet: Dieses Konzept geht davon aus, dass der Mensch alles aus sich selbst generiert.  Das Böse ist in diesem Kosmos die Abwesenheit des Guten und kommt durch Mängel zustande. Eben weil wir das verdrängen wollen, schaffen wir uns Figuren wie Krampus und Perchten.

Warum wir an der Tradition festhalten: Tradition vs. Verdrängung

"Krampus" Kinofilm | © movieplot.de

„Krampus“ Kinofilm | © movieplot.de

Ganz schön rückschrittlich, oder? Einerseits vielleicht, weil wir uns weigern, über unsere Motive Gedanken zu machen. Andererseits – bei der Analyse des Wortes „Tradition“ – können wir viel durch die „Weitergabe erlernter Informationen“ lernen. Denn die ist es schließlich, die den Autopiloten in unserem Gehirn programmiert, der unbewusst vor-selektiert, welche Sinneseindrücke wir verarbeiten und bewusst wahrnehmen oder nicht. Was wir also aus der Geschichte um Nikolo und Krampus lernen können ist nicht die Tatsache, dass Wohltätigkeit gut und Gewalt böse ist, sondern dass wir Menschen (und Konsumenten!) Symbolfiguren bieten müssen, in welche sie diejenigen Wünsche und Bedürfnisse projizieren können, die sie sich selbst ad hoc nicht erfüllen können. Das zeigt sich im Übrigen auch in der immer mehr Filmen, welche die Mythen um Krampus bzw. Nikolo aufnehmen. Die Faszination liegt darin, dass das Böse auf einmal ins Leben der Filmfiguren tritt, es ist nicht nur beobachtete und steife Tradition. Es ist spannend, wie dabei der regionale Mythos um den Krampus außerhalb Süddeutschlands/Österreichs erklärt und eingeordnet wird: Z. B. erklärt der Schauspieler Christoph Walz dem US-amerikanischen Talkmaster Jimmy Fallon mit viel Selbstironie, dass der Krampus eine katholische Erfindung sei, um Kindern Angst zu machen.

Farbcodes und Symbole:  Vermarktung durch die Süßwarenindustrie

Santa Claus Darstellung um 1927

Santa Claus Darstellung um 1927

Der Nikolo ist grundsätzlich gekennzeichnet durch das Gewand eines katholischen Bischofs (Krummstab & Bischofsmantel). Die Farbgebung (rot-weiß) stammt von einer aus dem Jahr 1927 in den USA vorgenommenen Vereinheitlichung (und nicht von Coca-Cola!), weil es so viele Farbgebungen gab. Das Aussehen des Krampus jedoch orientiert sich bis heute an der Vorstellung der Krampusmasken-Künstler, die ein möglichst gruseliges Bild des Teufels in der Hölle abbilden sollen.

Die Popularität des Nikolos in der Süßwarenindustrie ist daher kein Wunder: Seit der Vereinheitlichung der Farbgebung (es sei angemerkt, dass es vor allem in Osteuropa auch die Farbgebung weiß-gold gibt), spielen die Schokoladenhersteller mit den Bedeutungen der einzelnen Symbole. Das ist vor allem deswegen spannend, weil die Farbcodes der Marken (z. B. das „Milka-Lila”, das „Manner-Rosa” oder das „Lindt-Gold”) gekonnt in die Verpackungen integriert werden. Aufgrund der negativen Konnotationen ist es daher schließlich auch nicht verwunderlich, dass es nur wenige Hersteller gibt, die Schokoladen-Krampi herstellen.

Schokoladenumsatz in der Weihnachtszeit: Rekordverdächtiger Nikolo

Auch wenn der traditionelle Ursprung geblieben ist, haben sich die Schwerpunkte der Erscheinungsformen von Nikolo und Krampus verändert. Perchtenläufe gibt es zwar immer noch, aber sie sind in den Hintergrund gerückt. Auch der Stiefel als Überreichungsform verliert zunehmend an Bedeutung. Dafür sind Nikolo & Krampus in Schokoladenform seit vielen Jahren immer beliebter geworden und sorgen in der Weihnachtszeit für einen regelrechten Boom bei den Süßwarenherstellern: Seit Jahren steigen die Umsätze trotz des steigenden Kakaopreises. Im Jahr 2004 haben 2,7 Mio. Nikolos und 1,3 Mio. Krampusse in Schokoladenform zum Weihnachtsumsatz der Süßwarenindustrie von 18 Mio. Euro beigetragen. Alle großen/größeren Hersteller (Ferrero, Hauswirt, Heindl, Manner, Milka, Nestlé, Zotter) repräsentieren ihre Marke durch die Nikolos bzw. Krampi. Hier einige Beispiele:

v.l.n.r.: "Krampus & Nikolo" von Milka, "Nikolo-Sackerl" von Manner, "Weihnachtsmann" von Lindt | © bei den jeweiligen Herstellern

v.l.n.r.: „Krampus & Nikolo“ von Milka, „Nikolo-Sackerl“ von Manner, „Weihnachtsmann“ von Lindt | © bei den jeweiligen Herstellern

  • Milka präsentiert Krampus und Nikolo in traditioneller Verpackung und signalisiert damit: Wir sorgen dafür, dass Eure Rituale nicht verloren gehen!
  • Manner verpackt beide Figuren im Nikolo-Sackerl, das direkt so verschenkt werden kann: Unsere Marke ist so traditionsreich, dass sie mit dem vorweihnachtlichen Mythos mitziehen kann.
  • Lindt fokussiert mit seinem Wording (Schokoladenfiguren, Weihnachtsmann, etc.) vor allem das kulinarische Endprodukt: Wir sind die Besten, weil alte Traditionen durch die Qualität unserer Schokolade neu erlebt werden können.

Hier geht es um die Konstruktion eines Markengedächtnisses durch den Rückgriff auf eine Tradition: Die anerzogenen Brainscripts (schließlich wachsen die meisten mit der Nikolo-Geschichte auf) werden durch die Marken kultiviert. Und das ist dann überhaupt nicht mehr rückschrittlich, sondern Basis für enormes Innovationspotenzial.

Übrigens: Auch die Trends im Lebensmitteleinzelhandel wandeln sich stetig. So wird der Trend „Ostern sei das neue Weihnachten” (auch hinsichtlich der Schokoladenproduktion) immer populärer. Signalisiert dies, dass der Nikolo als Umsatzstütze wegbricht? Nicht unbedingt, wenn es Süßwarenhersteller & Lebensmitteleinzelhandel schaffen, die „Marke Nikolo” im (Marken-)Gedächtnis der Bevölkerung aufzufrischen!