Es gibt Wissenschaftler, die gerne provozieren. Manche versuchen, ein Zeichen zu setzen, um ihre aberwitzig scheinenden Theorien bekannter zu machen. Richtig ernst wird man sie allerdings nie nehmen – weder in Fachkreisen, noch in Zeitschriften und Online-Magazinen.
Anders hingegen verhält es sich mit dem Ethnologen und Verhaltensforscher Karl Grammer, um den es hier gehen soll: Seine Aussagen sind radikal, keinesfalls politisch korrekt und hinterlassen manchmal ein ungläubiges Staunen bei Leserinnen und Lesern. Sein Thema ist das Universum bzw. die Dualität „Mann ↔ Frau” und alle Facetten, die sich in diesem Beziehungsuniversum ergeben. Was seine Aussagen so radikal macht, ist die Tatsache, dass seine Analysen niemals eine psychologische, sondern eine anthropologische Perspektive einnehmen. Oder anders formuliert: Karl Grammer geht es nicht darum, irgendwelche Gefühlsduseleien und Befindlichkeiten auf die Charaktereigenschaften von Menschen zurückzuführen. Er untersucht die Instinkte und Triebe der Menschen und kommt dabei zu Erkenntnissen, die vielleicht radikal sind, bei näherem Betrachten jedoch wenigstens nicht verneint werden können.
Es gibt zwei Gründe, warum wir uns mit seinen Thesen auseinandersetzen. Einerseits sind viele Verhaltensmuster in den Beziehungsgeweben von Männern und Frauen auch für die Erschließung bzw. Ermittlung potenzieller Zielgruppen wichtig, andererseits geht es um die Art und Weise, wie Karl Grammer seine Forschungsergebnisse kommuniziert.
„Am Kiosk sehen Sie, wie archaisch die Partnerwahl funktioniert: In Frauenmagazinen geht es nur um Schönheit, in Männermagazinen um schnelle Autos und Geld. So primitiv ist das.”
Aussagen wie diese sind es, die dazu verleiten, Karl Grammer nicht ernst zu nehmen (hier im Interview mit Gabriela Herpell für die Süddeutsche Zeitung). Allerdings zeigt uns dieses Beispiel sehr eindrucksvoll, wie schnell wie die Brücke zwischen Verhaltensforschung und qualitativer Marktforschung schlagen können: Wenn schon offensichtlich ist, wo die geschlechterspezifischen Zielgruppen verschiedener Magazine und Bookazine liegen, sollten wir nicht den Fehler machen, uns diesen verhaltenswissenschaftlich untermauerten Erkenntnissen zu verwehen.
Die Kunst der Differenzierung: Die Argumentationsweise Karl Grammers
Es wäre zu kurz gegriffen, wenn wir Verhaltensforschung und qualitative Marktforschung auf die einfache Dualitäten wie Mann/Frau, Jäger/Sammlerin, Macho/Schönheit zurückführen würden. Damit würden wir uns selbst die Untersuchungsgrundlage nehmen.
Wie bereits oben erwähnt, gelingt es Karl Grammer durch den Aufbau seiner Argumentationsstruktur, dass Leserinnen und Leser erst einmal weiterlesen.
Aussagen wie rufen einen kurzen Schockmoment hervor: „Heute weiß man: Bei der Beurteilung von Schönheit geht es nicht um innere Werte, und wenn, dann gehört das Gutsein gewiss nicht dazu.” – Danach jedoch geht es weiter in die Tiefe, es gibt Differenzierungen, Metaphern und Verbildlichungen, die grundlegende Konzepte unserer Gesellschaft ein Gesicht geben; bleiben wir beim Beispiel „Schönheit“: So spricht er davon, dass Schönheit keine universelle Wahrheit, sondern eine Art Konstruktionsanleitung sei. Schönheitswahn entstehe deswegen, weil die Möglichkeiten bei der potenziellen Partnerwahl durch die vielen Kontakte, die jeder Mensch pflegt, exorbitant gestiegen sind und man schlicht und ergreifend mehr Auswahl hat.
Wenn wir bei Geschlechterunterschieden und Schönheit sind, wie steht es denn dann um die Liebe? Sie ist eine Emotion, die nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich, sondern auch bei der Bildung von Markenbeziehungen eine wichtige Rolle spielt.
Hier unterscheidet Karl Grammer sehr wohl zwischen dem sehr rationalen „biologisch-physiologischen Programm der Reproduktion” und der Liebe als „vielschichtigem Komplex”. Hierbei ist spannend, dass er „Bindung, Hingabe, Leidenschaft, Trauer bei Trennung und Eifersucht” als verschiedene Gefühle und Emotionen beschreibt, mit denen der Begriff der „Liebe” umschrieben wird.
Provokation oder Differenzierung?! – Was wir von Karl Grammer lernen können.
In der qualitativen Marktforschung beschäftigten wir uns oft mit unterbewusst gesteuerten Emotionen und versuchen, Emotionalisierungen in Markenkontexten zu schaffen, um neue Zielgruppen zu gewinnen oder bestehende Fancommunities neu zu begeistern.
Wir sollten dennoch ab und zu darüber nachdenken, dass die Ergebnisse der Verhaltenspsychologie (nicht alle sind so „eingängig” formuliert wie die Aussagen von Karl Grammer) eine wichtige Grundlage für unsere Analyse ist, wenn wir nicht gegen die berühmten „Windmühlen“ kämpfen wollen, weil wir uns gegen evolutionsbiologische Erkenntnisse durchsetzen wollen.
Es soll abschließend noch betont werden, dass wir hier nicht für die Etablierung irgendwelcher Klischees oder Stereotypen plädieren wollen! Ganz im Gegenteil: Wir wollen verschiedene Sachverhalte aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachten und aus jeder das Bestmögliche mitnehmen. Die Forschungsergebnisse von Karl Grammer sind eine solche Perspektive. Und ob wir damit einverstanden sind oder nicht: jeder Differenzierung liegt eine Dualität zugrunde, die besondere Aufmerksamkeit verdient!