Wenn Marketing, Markt- und Motivforschung zum Erlebnis werden sollen, ist es unbedingt notwendig, sich über den Begriff des „Bewusstseins” Gedanken zu machen: Der Vortrag von Antonio Damasio aus der Neuroforschung versucht, dem Geheimnis des Bewusstseins auf die Spur zu kommen. Hierbei erhebt der Vortragende keinen Anspruch, dieses „Rätsel” zu lösen – er möchte jedoch einen Rahmen für einen möglichen Erklärungsansatz schaffen.
„The wonder is that we woke up this morning and we had the amazing return of our concious mind.” – Mit diesen Worten beginnt Damasios Vortrag, da wir ohne das Bewusstsein keinerlei Informationen über die Menschheit oder die Welt hätten. Nur durch das Bewusstsein sind Kreativität, Freude oder der Glaube an Transzendenz überhaupt möglich. Damasio behauptet, dass viele Philosophen behaupteten, dass das Bewusstsein als gegebene Tatsache/gegebenes Mysterium unantastbar sein solle; damit stimme er jedoch nicht überein!
Der „Verstand” und das „Selbst” als Komponenten des Bewusstseins
Moderne Bildverarbeitungstechnologien erlauben es mittlerweile, ins Innere des menschlichen Gehirns einzudringen und die Rekonstruktion eines lebenden Gehirns zu erschaffen. Die verschiedenen Farben der folgenden Darstellung sind Indikatoren für die Richtung, in denen einzelnen Synapsen und Synapsenbündel Signale senden (siehe Titelbild, © TED ).
Das Bewusstsein kann einfach als das, was wir im tiefen (traumlosen) Schlaf verlieren und beim Aufwachen wiederbekommen, beschrieben werden. Diese Erklärung genügt Damasio jedoch nicht, er definiert zwei Komponenten des Bewusstseins:
1. Der Verstand – Dieser ist ein Fluss von geistigen Bildern, die auditiv und/oder visuell sein können.
2. Das Selbst – Dieses bringt die subjektive Perspektive in das Bewusstsein. Wir sind nur dann völlig bei Bewusstsein, wenn das Selbst mit dem Verstand zusammenfällt.
Wie ist der Verstand zusammengesetzt?
Wie ist der Verstand zusammengesetzt?
Voraussetzung für die Bildung des Verstandes ist die Konstruktion von „Karten” durch neuronale Raster, die nicht nicht zwanghaft visuell sein müssen; sie können auch jeden anderen Sinn ansprechen. Wichtig ist hierbei, dass kleine mechanische Veränderung des Rasters/der Oberfläche, mit der rezipiert wird (wie z. B. eine Krümmung der Netzhaut) zu Verzerrungen der mentalen Erfahrung führen können.
© TED
Image Making Regions: Bildgestaltende Regionen sorgen für den Verstand
Die lila eingefärbten Flächen markieren den Assoziationskortex und sind Momentaufnahmen dessen, was in den sog. bildgestaltetenden Regionen rezipiert wurde. Aus diesen Erinnerungs-Aufnahmen können wiederum Bilder produziert werden. Der Clou hierbei ist, dass das Hirn dieselben Hirnregionen nutzt, um einerseits Informationen zu rezipieren und diese andererseits darzustellen. Das ist das, was Damasio mit „Verstand” beschreibt.
© TED
Das Selbst als dreistufiger Komplex
Der Vortragende schlägt vor, dass der Mensch „Gehirn-Karten” vom Inneren des Körpers generiert und diese als Referenz für alle anderen Karten (der äußeren Welt) verwendet. Die Referenz (das „Ich”) benötigt Stabilität. Wir haben in uns ein System, das diese Kontinuität garantiert, weil unser Körper ohne diese physiologische Abstimmung nicht funktionieren würde. Es existiert eine Koppelung der Körperregulation und dem Hirn und im Körper selbst. Ohne das Bewusstsein gibt es nämlich keinen Zugang zum Selbst, was bei physiologischen Beeinträchtigungen des Hirns passiert.
Der roter Bereich (Bild oben) markiert alle Module, die dafür verantwortlich sind,„Karten” des Körper-Inneren zu generieren. Der Hirnstamm ist die Basis für die Generierung eines „Selbst”. Die Zusammenschaltung mit dem Körper ist dabei unabdingbar. Der zerebrale Kortex ist in dieser Trias für den Inhalt des Bewusstseins verantwortlich. Die verschiedenfarbigen Pfeile (Bild rechts) stehen hierbei für die enge Interaktion: Alle drei Komponenten (Hirnstamm, zentraler Kortex und Körper) interagieren ständig und sind voneinander abhängig.
Die drei Stufen des Selbst: Das „Autobiografische Selbst” als Clou!
Das (1) „Proto Selbst” und das (2) „Innere Selbst” haben Menschen mit vielen Spezies gemeinsam, beide kommen hauptsächlich aus dem Hirnstamm. Was den Menschen unterscheidet, ist die Existenz eines (3) „Autobiografischen Selbst”: Dieses basiert auf vergangenen Erinnerungen & ausgedachten Plänen, die wir für die antizipierte Zukunft geschmiedet haben.
Bewusstsein als (Weiter-)Entwicklung
Die Folgen dieses „autobiografische Selbst” sind zahlreiche Fähigkeiten, die mit der „Spezies Mensch” in Verbindung gebracht werden: erweiterte Erinnerung, Schlussfolgern, Einbildung, Kreativität & Sprache. Wir können, so Damasio, sagen, dass das Bewusstsein erst im Rahmen dieses außergewöhnlichen „Selbst” in Kombination mit dem Verstand geschaffen werden kann.
Die Folgen dieses Bewusstseins sind: Religionen, Gerechtigkeit, Handel, die „Künste”, Wissenschaft & Technologie. Diese Aspekte werden in Kulturen (weiter-)entwickelt und sind nicht biologisch vorgegeben. Durch soziokulturelle Regulation entwickeln wir uns weiter, weil unser Bewusstsein durch (1) Neugier, (2) dem Wille, Gesellschaft & Kultur verstehen zu wollen und (3) der Medizin angetrieben wird.
Implikationen für die qualitative Markt- und Motivforschung
Die Komplexität des Bewusstseins eröffnet neue Möglichkeiten und Erklärungsansätze für die Markt- und Motivforschung. Antonio Damasios Erklärungsrahmen von „Verstand” und „Selbst” zeigt, dass das Bewusstsein in einen kulturellen und diskursiven Kontext fällt. Demnach ist nicht nur das Bewusstsein von der Kultur (die ein wesentlicher Ausgangspunkt für unsere Untersuchungen ist) abhängig, sondern die Kultur vom sich ändernden Bewusstsein einer Gesellschaft. Und genau deswegen loht es sich, genau hinzusehen und auch kleinste Veränderungen zu analysieren!